14. November 2016

Leonard Cohen. Ein Kaddisch



Wenn so jemand - einer der ganz Großen - von uns geht, erübrigen sich eigentlich alle Worte. Wen seine Lieder durch das Leben begleitet haben, braucht keine Belehrung oder Einführung, und wem seine Musik nie nahe gewesen ist, dem werden auch so gut gewählte Worte nichts vermitteln können. Es bleibt, seine Songs zu spielen, ihnen zu lauschen, in den Klang der Worte und Verse einzutauchen. Musik wie aus tiefen Weltraumfernen, zeitlos und tief persönlich.

Als Beispiel soll das Titelstück seines letzten, vor drei Wochen erschienen Albums gelten, "You Want It Darker", das als Auskoppelung am Tag seines 82. Geburtstags erschien und das jetzt zu seinem Vermächtnis geworden ist.

If you are the dealer, I'm out of the game
If you are the healer, it means I'm broken and lame
If thine is the glory then mine must be the shame
You want it darker
We kill the flame

There's a lover in the story
But the story's still the same
There's a lullaby for suffering
And a paradox to blame
But it's written in the scriptures
And it's not some idle claim
You want it darker
We kill the flame

Magnified, sanctified, be thy holy name
Vilified, crucified, in the human frame
A million candles burning for the help that never came
You want it darker

Hineni, hineni
I'm ready, my lord


Und doch...manchmal gibt ein wenig Information eine erweiterte Sicht. Im Fall von "You Want It Darker" kann man dies etwa in einem Beitrag in der Times of Israel vom 22. September nachlesen: 

The song is an eerie, minimalist rumination with strong religious elements in the lyrics. At the end of the chorus Cohen sings “Hineni, hineni; I’m ready, my lord.” Hineni is Hebrew for “here I am,” and is the response Abraham gives when God calls on him to sacrifice his son Isaac. It is also the name of a prayer of preparation and humility, addressed to God, chanted by the cantor on Rosh Hashanah. One verse also echoes the language and rhythm of the Kaddish, the prayer for mourners that reaffirms faith in God. Here’s the verse:

Magnified, sanctified be thy holy name
Vilified, crucified in the human frame
A million candles burning for a help that never came
You want it darker, we kill the flame

The song is also the product of an extensive Jewish collaboration. The track features background vocals from Gideon Zelermyer, cantor of the Shaar Hashomayim synagogue in Cohen’s native Montreal, along with the Shaar Hashomayim choir. (The Shaar cantor and choir also contributed to another song on the album titled “It Seemed the Better Way,” according to the Montreal Gazette.)

The song’s dark themes and foreshadowing come as some have begun to speculate on the singer’s health and longevity. Rolling Stone points out that Cohen hasn’t performed in public since 2013. Last month he wrote an emotional letter to his former girlfriend and muse Marianne Ihlen, who died in late July.

“Well Marianne it’s come to this time when we are really so old and our bodies are falling apart and I think I will follow you very soon. Know that I am so close behind you that if you stretch out your hand, I think you can reach mine,” Cohen’s letter read, according to Ihlen’s friend Jan Christian Mollestad.

“Hineni, hineni; I’m ready my lord” sounds quite eerie after reading that.

Das Lied ist eine unheimliche, minimalistische Meditation mit starken religiösen Textbezügen. Am Ende des Refains singt Cohen: "Hineni, hineni - Herr, ich bin bereit." "Hineni" ist Hebräisch für "hier stehe ich"; die Antwort, die Abraham gibt, als ihm Gott das Opfer seines Sohn Isaak befiehlt. Es bezeichnet auch ein Gebet, das Bereitschaft und Demut ausdrückt und vom Kantor zu Rosch Haschana [dem jüdischen Neujahrstag] gesungen wird. Eine Textzeile ist in der Sprache und dem Rhythmus des Kaddisch gehalten, dem Trauergebet, mit dem die Trauernden ihen Glauben an Gott bekräftigen.
...
Das Stück ist auch Ergebnis einer intensiven jüdischen Zusammenarbeit. Auf dem Stück singt der Kantor der Schar Haschomayim-Synagoge in Cohens Geburtsstadt Montreal.  (...)

Die dunkle Thematik des Lieds fallen mit Spekulationen über die Gesundheit des Sängers zusammen. Im Rolling Stone wurde erwähnt, daß Cohen seit 2013 nicht mehr aufgetreten ist. Vor einem Monat schrieb er einen bewegenden Brief an seine frühere Freundin und Muse Marianne Ihlen, die Ende Juli starb.

"Marianne: es ist so weit gekommen, daß wir so alt geworden sind und unsere Körper zerfallen. Ich glaube, ich werde dir bald folgen. Sei gewiß, daß ich so dicht hinter dir bin, daß du meine Hand nehmen kannst, wen du danach greifst," hieß es in Cohens Brief. Vor diesem Hintergrund liest sich "hineni, hineni" anders.

Aus Anlaß der Veröffentlichung des neuen Albums hat der New Yorker übrigens ein langes, ausführliches Porträt Cohens aus der Feder von David Remnick publiziert, das eine umfangreiche Darstellung seiner Karriere bietet und auf ausführlichen Interviews mit dem schon todkranken Künstler im September beruht. Mit fast elftausend Worten Umfang - ausgedruckt wären das an die dreißig Seiten - findet sich darin auch eine der umfassendsten Darstellungen von Cohens Sicht auf das Leben, auf seine Haltungen, die er je gegeben hat.

- David Remnick: "Profiles: Leonard Cohen Makes It Darker" (The New Yorker, 17. Oktober 2016)

Schon vor über zwanzig Jahren hat Heinrich Detering im "Merkur" mit Blick auf Leonard Cohen und Bob Dylan als beständige Künstler gefragt, warum ihren Werke, über Jahrzehnte hinweg fortgesetzt, so ganz im Gegenteil zu dem Schaffen der allermeisten Pop- und Rocksänger, der berufsjugendlichen Rebellen und Idole, so gar nichts Peinliches, Bemühtes eigne, und die Antwort gegeben: weil sie nie jung waren, weil sie nie als Sprecher einer zeitlich eng begrenzten Alterskohorte, denen ihre Musik für die entscheidenden zwei oder drei Jahre der geistigen Abnabelung den Soundtrack bildete, dastanden. Weil sie nie dem einstigen vermeintlichen Rebellentum verpflichtet waren, sondern immer frei waren, diese musikalische Sprache, diese Formen mit zeitlosen Inhalten zu füllen - und deren Themen auch immer schon solche waren, die über den Rahmen der Hitparaden und des flapsigen Anprangerns mißlicher Zeitumstände hinweg die großen Themen der Lyrik aller Zeiten darstellten: die Hinfälligkeit, das Scheitern des Lebens, die letztliche Vergeblichkeit der Liebe und der Tod. Bei Dylan ist dies nicht in gleichem Maße gegeben wie bei Cohen - dafür waren seine Anfänge zu sehr die eines "Sprachrohrs der 68er Generation" - aber wer mit seinen Songs gealtert ist, dem sind die Lieder des 30 Jahre älteren Dylan nicht peinlich. Um so mehr gilt das für Cohen, dessen Bildsprache ebenso viel den Metaphern, den Geschichten des Alten Testaments verdanken wie den Echos des Blues oder des "Great American Songbook".  Gottfried Benn hat sich 1954 in einem Vortrag dem "Altern als Problem des Künstlers" angenommen (seiner Perspektive gemäß natürlich eher auf die Heroen der klassischen Kunstauffassung wie Goethe oder Leonardo fokussiert); es kann sein, daß bei Cohen und Dylan für diese Facette der Populärkunst eine angemessene, ja sogar würdevolle Antwort zu finden ist. (Mit Hinsicht auf Benn könnte es auch interessant sein, dessen "Statische Gedichte" neben die fast abstrakten, aber direkt über ihre Bilder den Hörer ergreifenden Liedtexte Cohens zu legen. Die ästhetischen Verfahren, denen beide ihre Wirkung verdanken, dürften identisch sein.)

In der 20-minütigen Audio-Kurzfassung seines Aufsatzes, die am 10. November auf YouTube hochgeladen wurde, werden immer wieder Ausschnitte aus den Interviews, die der Autor mit Leonad Cohen geführt hat, eingeblendet. ("Leonard Cohen: The Last Interview"):  "Bob Dylan once told Cohen that his songs were like prayers and in fact, many of Cohen's poems and songs lean heavily on scripture, on the Psalms in particular, as much as they do on the American Song Book and folk music. ... "Because I don't like to be identified with Jewish thought. In my own mind, you know, I know that I'm deeply conditioned by one of the great themes of Kabbalistic thought, and the idea that the thrust of Jewish activity is the repair of God: God, in creating the world, dispersed itself. That creation is a catastrophe: there are pieces of Him - or Her, or It - that are everywhere, in fact - and that the specific task of the Jew is to repair the Face of God. The prayers remind God that it was once a harmonious unity.""

Dylan sagte Cohen einmal, daß seine Lieder Gebeten glichen ... "Ich möchte nicht mit jüdischer Lebensauffassung und Religion ein in eins gesetzt werden. Was mich selbst betrifft, weiß ich, daß ich tief durch eins der Hauptthemen der Kabbala geprägt bin: die Auffassung, daß es die besondere Aufgabe der Juden ist, den Schöpfer zu heilen. Als Gott die Welt schuf, zerstörte er sich, verteilte sich. Daß die Schöpfung eine Katastrophe war, so daß es nun überall Bruchstücke von Ihm - oder Ihr - gibt, und daß es uns aufgegeben ist, das Angesicht Gottes wiederherzustellen. Die Gebete sollen Gott daran erinnern, daß einst eine harmonische Einheit herrschte.


By the rivers dark
I wandered on
I lived my life
In Babylon.

And I did forget 
My holy song
And I had no strength
In Babylon.

Then he struck my heart
With a deadly force,
And he said, "This heart,
It is not yours."

By the rivers dark,
Where it all goes on - 
By the rivers dark
In Babylon.

In dem Artikel von David Remnick findet sich auch eine kurze Einlassung von Dylan zu einem Aspekt des Cohenschen Werks, der allzuoft übersehen wird, bei all der Eingängigkeit und der - scheinbaren - Schlichtheit seiner Melodien (aber, daran sollte man sich erinnern: bei wirklich großer Kunst gibt es nichts, was so schwer fällt, so unüberbietbar ist wie eleganteste, auf das Minimum reduzierte Mittel):

Dylan, who is seventy-five, doesn't often play the role of music critic, but he proved eager to discuss Leonard Cohen. I put a series of questions to him about Number 1, and he answered in a detailed, critical way—nothing cryptic or elusive.

"When people talk about Leonard, they fail to mention his melodies, which to me, along with his lyrics, are his greatest genius," Dylan said. "Even the counterpoint lines—they give a celestial character and melodic lift to every one of his songs. As far as I know, no one else comes close to this in modern music. Even the simplest song, like 'The Law,' which is structured on two fundamental chords, has counterpoint lines that are essential, and anybody who even thinks about doing this song and loves the lyrics would have to build around the counterpoint lines.

"His gift or genius is in his connection to the music of the spheres," Dylan went on. "In the song 'Sisters of Mercy,' for instance, the verses are four elemental lines which change and move at predictable intervals . . . but the tune is anything but predictable. The song just comes in and states a fact. And after that anything can happen and it does, and Leonard allows it to happen. His tone is far from condescending or mocking. He is a tough-minded lover who doesn't recognize the brush-off. Leonard's always above it all. 'Sisters of Mercy' is verse after verse of four distinctive lines, in perfect meter, with no chorus, quivering with drama. The first line begins in a minor key. The second line goes from minor to major and steps up, and changes melody and variation. The third line steps up even higher than that to a different degree, and then the fourth line comes back to the beginning. This is a deceptively unusual musical theme, with or without lyrics. But it's so subtle a listener doesn't realize he's been taken on a musical journey and dropped off somewhere, with or without lyrics."

Dylan gibt nicht oft den Musikkritiker, aber hier machte er gerne eine Ausnahme. Ich stellte ihm ein paar Fragen zu No. 1 (wie Cohen Dylan einmal in den sechziger Jahren genannt hatte) und er beantwortete sie präzise und detailliert - überhaupt nicht kryptisch oder verallgemeinernd. "Wenn die Sprache auf Leonard kommt, werden seine Melodien oft vergessen. Für mich liegt da seine wahre Kunst. Selbst der Kontrapunkt - das verleiht jedem Lied etwas Großartiges und läßt die Melodie aufsteigen. Ich kenne niemanden in der modernen Musik, dem das so gelungen ist. Selbst bei den einfachsten Stücken, wie 'The Law', das nur aus zwei Grundakkorden besteht, gibt es einen Kontrapunktlauf, der nicht weggelassen werden kann. Jeder, der den Song aufführen will, muss das als Grundlage nehmen."

"In 'Sisters of Mercy' etwa besteht der Text aus je vier regelmäßig wiederkehrenden Zeilen - aber die Melodie ist unvorhersehbar. Das Thema ist der entschlossene Liebhaber, der die Zurückweisung nicht bemerkt. Der Sänger ist ganz neutral, nur Beobachter. Das Lied umfasst Strophe um Strophe, ohne Refrain, mit bruchlos steigender Spannung. Es beginnt in Moll, steigt einen Ton höher ins Dur, wandelt die Melodie ab, die dritte Zeile steigt noch höher, und die vierte kehrt wieder an den Anfang zurück. Das ist eine ganz ungewöhnliche Struktur - aber es kommt so subtil daher, daß der Zuhörer nicht bemerkt, daß die Musik ihn mitgenommen und dann in der Leere zurückgelassen hat."

Sisters of Mercy (Songs of Leonard Cohen, 1967)

Oh, the sisters of mercy, they are not departed or gone
They were waiting for me when I thought that I just can't go on
And they brought me their comfort and later they brought me this song
Oh, I hope you run into them, you who've been travelling so long

Aus dem Rückblick erweisen sich vielleicht die Aufnahmen als am beindruckendsten, die während der letzen Phase von Cohens Bühnenauftritten, jener über vier Jahre, von 2008 bis 2013 dauernden Welttournee, entstanden sind und die auf den Alben Live in London (2009), Songs from the Road (2010), Live in Dublin (2014) und Can't Forget (2015) dokumentiert sind. Die virtuose Begleitband gibt den Liedern Körper und Substanz, die auf den minimalistisch instrumentierten Studiofassungen mitunter vermisst werden; die tiefe, aber oft überraschend klare Singstimme verleiht den Darbietungen eine Intimität, die auf der großen Bühne in aller Regel verloren geht und die Chemie zwischen dem Sänger und seinem Publikum teilt sich ungebrochen mit.


Was vor allem bleibt, sind Dutzende von Liedern, die sich zeitlos der eigenen Lebenserfahrung einschreiben und für die das Kennmerk wirklicher Kunst - egal ob große Form oder nur ein gelungener Spottvers - gilt: gleich, wann man das zum ersten Mal gehört hat: hier handelt es sich nicht um ein Erfassen zum ersten Mal, sondern um ein Wiedererkennen: man das das immer schon gekannt. Man hat nur bislang nicht gewußt, daß man es schon immer gekannt hat.


("You Got Me Singing", Popular Problems, 2014)

You got me singing
Even though the news is bad
You got me singing
The only song I ever had

You got me singing
Even though the world is gone
You got me thinking
That I'd like to carry on






R.I.P.



















­
Ulrich Elkmann

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